Google

WWW
buerger-fuer-technik.de
 

Leserbrief Umweltpolitische Blütenträume

Home > Leserbriefe ab 2010 > Leserbrief Umweltpolitische Blütenträume

veröffentlicht 02.11.2010

Prof. Dr. Helmut Alt, FH Aachen

Leserbrief Umweltpolitische Blütenträume
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2010

Brief an die Herausgeber

Zu ”Von der Atom- zur Ökowirtschaft" (FA.Z. vom 7. September): Holger Steltzner ist sehr für den hervorragend sachkundigen Kommentar zu danken. Bezeichnend für das Gespür unserer Bundeskanzlerin für das Machbare ist der am Folgetag des Atomkompromisses absolvierte Besuch in Litauen mit der Zusicherung, den Neubau eines dortigen Kernkraftwerkes zu unterstützen.

Der im Widerstreit zwischen dem Wirtschafts- und dem Umweltministerium für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre erreichte Kompromiss bietet uns nun eine tragfähige Energieversorgung bis zum nächsten politischen Generationswechsel. Alle Großkraftwerksprojekte, die heute in Betrieb gehen oder in den letzten fünf Jahren in Betrieb gegangen sind, sind 2050 noch am Netz, zum Beispiel der 1000-MW-BOA-Block in Niederaußem, oder die im Bau befindlichen BOA 2 & 3 in Neurath. Hinzu kommen alle neu zu bauenden Steinkohleblöcke oder Gasturbinen, wenn auch Letztere mit kürzeren Erneuerungszyklen. Jedenfalls ist eine nahezu hundertprozentige Backup-Leistung für alle neu hinzukommenden Wind- und Sonnenanlagen unerlässlich, sofern die Versorgungssicherheit nicht aufgegeben werden soll oder entsprechend neue Gaskraftwerksanlagen gebaut sind.

Trotz aller Forschungsanstrengungen wird ein Speicher für elektrische Energie auch 2050 nicht verfügbar sein, denn es gibt bislang kein physikalisches Prinzip, welches einen solchen erwarten ließe, auch wenn das oft als Vision unterstellt wird. Durch Repowering wird die onshore erreichte Windleistung noch zunehmen, ebenfalls offshore, aber sehr begrenzt, denn die bisherigen negativen Realitätserfahrungen, zum Beispiel mit Alpha Ventus werden nicht folgenlos bleiben und die unrealistischen Erwartungen deutlich in die Schranken verweisen. Wenn Russland seinen Kernenergieanteil in der Stromerzeugung gemäß den Aussagen des Direktors des Instituts für Rechtsprobleme der Elektrizitätswirtschaft und natürlicher Monopole in Moskau, Grischenko, von derzeit 16 Prozent durch Kernkraftwerksneubauten auf 35 Prozent steigern wird und zugleich den Erdgasanteil im Inland reduziert, um dann das Gas wesentlich werthaltiger nach Deutschland zu verkaufen, wird das auch bei uns hoffentlich zu einem Nachdenken anregen.

Denn wenn wir per Gesetz in Deutschland keine neuen Kernkraftwerke bauen dürfen, ist das Gasgeschäft für Russland überaus nachhaltig und konkurrenzlos, das ist wirtschaftlich für die russischen Partner angenehm. Zumindest werden dann andere EU-Länder möglicherweise das tun, was wir in Deutschland nicht tun dürfen, Kernkraftwerke über den eigenen Bedarf hinaus bauen, vielleicht von uns teilfinanziert mit entsprechender Strombezugsoption, siehe Litauen.

Die deutschen Blütenträume einer fachlich unwissenden Mehrheit bei einer fachkundigen Minderheit können auf Dauer nicht erfolgreich sein. Darüber hilft auch die nun erreichte  „Energierevolution“ nicht hinweg, die Energiebrücke hat kein zweites Auflager in Sichtweite, heute und morgen auch nicht, das wird Herr Röttgen noch lernen müssen. Die Mitwirkung der für unsere Energieversorgung Verantwortung tragenden Fachleute aus den Versorgungsunternehmen bei dem Konsensprozess ist kein Lobbyismus, sondern dringende Notwendigkeit, damit die Unsinnsvorstellungen mancher Politiker zu Lasten aller Stromverbraucher in Grenzen gehalten werden. Dies ist zum Nutzen aller Stromverbraucher, von der Industrie bis zu den Haushalten.

Nicht die Atomkonzerne haben sich im Kanzleramt in Berlin durchgesetzt, sondern schlicht und einfach der Sachverstand zur Energietechnik und Energiewirtschaft mit dem minimal Notwendigen. Eine Abschaltung der Kernkraftwerke würde unsere Stromversorgung bei Windflaute und Hochlast unmöglich machen, und das wäre sehr häufig - im Winter täglich - der Fall. Außerdem wäre sie um mindestens 27 Milliarden Euro pro Jahr teurer, dann würden keine 2,3 Milliarden Euro zu verteilen, sondern 27 Milliarden Euro zu fordern sein, das ist ein großer Unterschied.